Aktiv im #Klimanotstand | Interview mit On Purpose Fellow Yvonne Scheurer
Im Rahmen unserer Serie “Climate Conversations” agieren wir von On Purpose seit diesem Jahr als Multiplikator für Stimmen, die andere inspirieren und zu einem nachhaltigeren Wirtschaften und Leben im Sinne des Klimas motivieren möchten. Wir bei On Purpose sind selbst vor einigen Monaten mit dem Ausruf des #Climateemergency auf eine Reise aufgebrochen und lernen im Rahmen unseres eigenen Wandlungsprozesses von den zahlreichen Menschen aus unserer internationalen und engagierten Gemeinschaft jeden Tag aufs Neue dazu.
Heute sprechen wir mit Yvonne Scheurer, On Purpose Fellow aus Berlin, und sind gespannt darauf, mehr über ihr Engagement im Thema Nachhaltigkeit und Klima zu hören.
Zu unserer Gästin
Stets getrieben von gesellschaftlichen Herausforderungen engagierte Yvonne sich beruflich seit jeher für Themen, die sie auch privat für wichtig hält, darunter Migration, Flucht und die damit einhergehende Politik. Der sozial-ökologische Sektor war ihr demnach auch vor ihrer Teilnahme am On Purpose Associate-Programm wohlbekannt. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Programms blieb Yvonne bei einer ihrer Partnerorganisationen – co2online – und treibt dort weiter spannende Projekte voran, von denen wir heute im Rahmen unserer #Klimanotstands Diskurse mehr erfahren möchten.
Liebe Yvonne, mittlerweile sind 2 Jahre seit Start deines Associate-Jahres vergangen und du arbeitest nun bereits seit 1,5 Jahren als Prozessmanagerin und Projektleiterin bei co2online. Hat sich dein Blick auf den Klimawandel entlang dieser Stationen verändert? Wenn ja wie und wodurch? Anders gefragt: Was hast du im Programm oder auch in deiner Partnerorganisation gelernt, dass dich eine noch passioniertere “Klimaschützerin” hat werden lassen also du sie ggf. ohnehin schon warst?
Ich glaube, da geht es mir wie so vielen anderen hier in Deutschland und auf der ganzen Welt. Natürlich wussten wir schon lange, dass wir ein Problem mit der globalen Erderwärmung haben und die Ressourcen des Planeten rücksichtslos ausbeuten. Auch in meinem Studium der Politikwissenschaft war Nachhaltigkeit bereits ein wichtiges Thema. Ich unterstelle aber, dass der Mehrheit der Menschen nicht bewusst war, wie schlimm die Situation ist und wir wirklich JETZT unmittelbar einen hohen Handlungsdruck haben. Dieser Weckruf ist der Verdienst von Fridays for Future. Die Bewegung wurde im August 2018 kurz vor Beginn meines Associate-Jahres bei On Purpose gegründet und hat im Sturm den Respekt unseres ganzen Jahrgangs erobert. Bei unseren wöchentlichen Freitags-Treffen haben wir ständig diskutiert, wie Klimaschutz von uns allen vorangetrieben werden kann, welche individuelle Klimabilanz noch vertretbar ist und wie wir auch andere von mehr Engagement überzeugen können. Einige unserer Fellows sind für mich zu Vorbildern geworden und treiben jetzt nach Abschluss des Programms ihre eigenen Ideen für den Klima- und Umweltschutz mutig voran.
Die Aha-Erlebnisse bei co2online häuften sich, je tiefer ich in die Projektarbeit eingestiegen bin. Früher konzentrierte sich mein Umweltbewusstsein darauf, Vegetarierin zu sein, Plastiktüten zu sparen und so viel Second Hand zu tragen, wie es sich in Berlin gehört. Ich hatte aber keine Ahnung, dass der persönliche Fußabdruck zu 52% bei uns zuhause entsteht. Ich habe meine WG schon früh damit genervt, penetrant alle Stromleisten auszumachen und die Heizung abzuschalten, bis uns allen zu kalt war. Früher habe ich das als Kampf gegen Verschwendung betrachtet – heute weiß ich, dass wir durchschnittlich ganze 28% unserer CO2-Emissionen beim Heizen produzieren. Mein Fokus hat sich stark verändert, und damit auch meine Mission im Berufsleben und sozialen Umfeld.
Was hat dich während des Programms an co2online so gereizt, dass du dich dazu entschlossen hast, auch im Anschluss weiterhin dort zu arbeiten?
Bei co2online arbeitet ein großartiges interdisziplinäres Team daran, Klimaschutz für die*den Einzelnen so greifbar und einfach wie möglich zu machen. Am meisten haben mich die zahlreichen Tools und kostenlosen Informationen überzeugt, die die so genannten Big Points des Klimaschutzes für Verbraucher*innen auf den Punkt bringen und direkt beim Umsetzen von Klimaschutzmaßnahmen unterstützen. Für private Haushalte gibt es eine Bandbreite an EnergiesparChecks, die das Energiesparen und damit die Treibhausgas-Reduktion forcieren.
Produktentwicklung und digitale Tools für den guten Zweck haben mich auch schon vor On Purpose begeistert. Während meiner Zeit als Associate haben wir eine Projektskizze für einen erweiterten Online-HeizCheck für Mieter*innen durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) eingereicht, der mich sehr gereizt hat. Mir wurde bewusst, wie wichtig die Wärmewende in Deutschland ist. Bei der Treibhausgas-Bilanz Deutschlands fällt der Gebäudebestand besonders ins Gewicht: Nach einem Bericht des Umweltbundesamts (UBA) entstehen hier mit einem Verbrauch von 35% der Endenergie rund 30% der deutschen Treibhausgase. Im Gebäudesektor schlummert also ein immenses Potential der CO2-Minderung. Um die Klimaziele (noch) zu erreichen, muss die Energieeffizienz — d. h. der Heizenergieverbrauch für Raumwärme und Warmwasser — der Gebäude dringend gesteigert werden. Mein Auftrag war also quasi gesetzt!
Bei co2online arbeitest du derzeit an einem vom Bundesministerium für Justiz- und Verbraucherschutz geförderten Forschungsprojekt mit, welches sich mehr Klarheit und weniger Fehlern bei den Heizkostenabrechnungen widmet. Kannst du uns etwas mehr zu den Zielen und Inhalten des Projekts erzählen?
In unserem Forschungsprojekt „Der HeizCheck für alle mit KI – Empowerment durch eine smarte Bewertung der Heizkostenabrechnung“ (kurz: Smart HEC) entwickelt ein Verbund aus Universität Leipzig, co2online, SEnerCon und ConPolicy eine innovative KI-Webanwendung für die smarte Bewertung von Heizkostenabrechnungen.
Zum Hintergrund: Jährlich erhalten rund 16 Mio. Haushalte in Deutschland eine Heizkostenabrechnung. Theoretisch könnten Verbraucher*innen dort alle Informationen finden, um Rückschlüsse auf die Preise der eingekauften Energie und Dienstleistungen, den energetischen Zustand des Gebäudes und das eigene Heizverhalten zu ziehen. In ihrer jetzigen Form sind die Abrechnungen jedoch nicht verständlich aufbereitet und für Fachfremde kaum zu verstehen. Das Resultat: Intransparenz und Orientierungslosigkeit, Anreize zum Energiesparen werden nicht gesetzt. Das schadet dem Klima durch erhebliche CO2-Emissionen, verursacht durch hohe Heizenergieverbräuche der Gebäude.
Hier kommt unser Entwicklungsprojekt ins Spiel: Die Grundidee ist, KI einzusetzen, um Heizkostenabrechnungen automatisch zu analysieren und zu interpretieren. Dafür trainieren wir ein neuronales Netz (Machine Learning), das anhand eines Fotos der Heizkostenabrechnung eine automatisierte Erkennung vornehmen kann. Die Nutzer*innen erhalten in der WebApp dann unkompliziert eine Bewertung Ihres Verbrauchs und Ihrer Kosten anhand verständlicher Vergleichswerte. Außerdem zeigen wir Ihnen, wo Ihr größtes Sparpotenzial liegt und wie Sie Ihren Energieverbrauch und individuellen CO2-Fußabdruck senken können.
Welche Rolle nimmst du hier als Projektmanagerin ein und welches sind dabei derzeit deine größten Herausforderungen?
Als Projektleiterin leite ich für co2online das Verbundvorhaben und beschäftige mich intensiv mit der Konzeption der neuen Anwendung. Wir entwickeln Smart HEC mit drei erfahrenen Projektpartnern und zwei Unterauftragnehmern, die für den Projekterfolg eng zusammenarbeiten. Ein Großteil meiner Arbeit widme ich dem Ziel, dass unsere Abstimmungen auch in herausfordernden Zeiten wie der COVID-19-Pandemie reibungslos funktionieren und wir alle Synergien optimal nutzen. Ich verstehe meine Rolle so, das Bestmögliche aus unseren Ressourcen herauszuholen und hartnäckig unsere Klimaschutzziele und die Projektmeilensteine voranzutreiben.
Wir haben schnell bemerkt, welche große Herausforderung das Training der KI-Erkennung darstellt. Am Markt gibt es viele Messdienstleister, die alle mit unterschiedlichen Abrechnungslayouts und Begrifflichkeiten arbeiten. Was für die Verbraucher*innen schwierig ist, stellt auch die KI vor eine große Aufgabe, die anhand eines breiten Datenstamms erlernt werden muss. Unser Ziel ist, möglichst viele Abrechnungstypen automatisch erfassen zu können. Für das Training mussten wir also zunächst viele verschiedene Heizkostenabrechnungen unserer Nutzer*innen sammeln. Jetzt sind wir seit Wochen damit beschäftigt, die bis zu 40 nötigen Kennwerte auf den Abrechnungen einzeln zu annotieren. Bei einem Datenstamm von 500 Abrechnungen sind da schon Ausdauer und ein gutes Team gefragt! Derzeit lässt sich noch nicht sagen, wie gut das von der Uni Leipzig trainierte neuronale Netz dann performt, das ist der Forschungsanteil des Projekts. Trotz der schmerzlichen Erkenntnis, wie kompliziert die Analyse von Heizenergieverbräuchen eigentlich ist, bleibe ich da aber optimistisch!
Klasse, also trägt deine aktuelle Arbeit als Projektleiterin ziemlich unmittelbar zum Klimaschutz bei! Welche Schritte stehen für dich derzeit im Projekt an?
Wir arbeiten gerade mit Hochdruck an einer ersten Version der neuen Anwendung. Ein wirklich spannender Moment für den Schweiß der letzten Monate! Seit Juni ist in Zusammenarbeit mit einer UX-Agentur aus Freiburg ein Prototyp entstanden, den wir in Sprints erarbeitet und zuletzt mit Nutzer*innen getestet haben. Nach einem letzten Feinschliff werden die Entwürfe jetzt umgesetzt.
Der konzeptionelle Fokus wird in den nächsten Monaten auf der Frage liegen, wie wir die Bedürfnisse der Nutzer*innen bedienen und zeitgleich unser Ziel des wirksamen Klimaschutzes vorantreiben können. Smart HEC wird unter ständigem Einbezug des User-Feedbacks entwickelt – wir führen Gespräche, testen und haben auch eine groß angelegte Umfrage umgesetzt. Mit den nächsten Fokusgruppen gehen wir der Frage nach, wie wir Nutzer*innen zum Energiesparen aktivieren können und welche Maßnahmen bzw. Services auf der Ergebnisseite des Tools für Sie besonders hilfreich sind. Das ist dann die Basis für unsere nächste Kreativrunde im Team und den Impact des Projekts.
Das Endergebnis eures Forschungsprojektes wird ein Online-Tool für Desktop und mobile Endgeräte sein, welches Daten erfasst und dann Optimierungsergebnisse zeigt. Wann soll das Online-Tool für die Endverbraucher*innen zur Verfügung stehen?
Du bist nicht die erste, die mich das ungeduldig fragt! Projektabschluss ist Ende 2021. Wir hoffen aber, bereits im Laufe der nächsten Monate eine Beta-Version veröffentlichen zu können. Die KI-Erkennung funktioniert dann zwar vielleicht noch nicht perfekt, könnte aber im laufenden Betrieb weiter optimiert werden und quasi „live“ dazulernen.
Die Stärke von co2online liegt darin, uns zu zeigen, wie wir zuhause mit dem Energiesparen anfangen können. Das beginnt damit, ohne Kosten für die Nutzer*innen auf Sparpotenziale hinzuweisen und diese anhand individueller Verbrauchsanalysen zu untermauern. Für diese Analysen reicht meistens eine Abrechnung (zum Beispiel für Heizen oder Strom). Danach hängt alles an der Motivation der Nutzer*innen, an den alltäglichen Gewohnheiten langfristig etwas zu ändern – das ist natürlich eine große Herausforderung! Aufklärung ist dafür der erste Schritt: hinweisen, sensibilisieren, analysieren und für Transparenz des CO2-Fußabdrucks privater Haushalte sorgen.
Ich bin sicher, dass die Energieexpert*innen auch bei On Purpose noch so einige Potenziale aufdecken und dann fachkräftig bei der Umsetzung von direkten Klimaschutzmaßnahmen in den eigenen vier Wänden (oder auch im Büro) unterstützen können.
Zu guter Letzt würde ich gerne noch einmal die Chance nutzen und mit dir nach vorne schauen. Nehmen wir an, du würdest dich zukünftig als Trainerin bei On Purpose engagieren, mit dem Wissen und der Erfahrung, die du in den letzten Monaten und Jahren sammeln konntest: Wie würde dein erstes Training zum rund um das Thema Klimanotstand heißen, das du gibst? Anders gefragt: Was möchtest du der Welt mit auf den Weg geben, was wir alle zum Klimaschutz verstanden haben sollten?
Klimaschutz ist für unsere Gesellschaft eine Mammutaufgabe. Wir verstehen nach und nach, dass er nicht nur alle Sektoren, sondern auch alle unsere Lebensbereiche und Konsumgewohnheiten umfasst. Für mich war der Klimasünder Gebäudesektor bis vor zwei Jahren eine ziemliche black box. Dabei sollten wir gerade hier alarmiert sein! Jüngste Auswertungen des DIW haben gezeigt, dass im letzten Jahrzehnt in Wohngebäuden kaum mehr Fortschritte in Richtung Energieeffizienz erzielt wurden. Ein großes Problem stellt in diesem Kontext die niedrige energetische Sanierungsrate dar. Wer sich dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 verschrieben hat, muss eine Reduktion des Energieverbrauchs in Gebäuden mit Beharrlichkeit fördern. Nötig wären dafür Effizienzgewinne von ca. 50 % bis 2050.
An dieser Stelle sind auch wir als private Haushalte gefragt! Ich würde also meine Zeit nutzen um zu verdeutlichen, wie wir alle – ob Hauseigentümer*innen oder Mieter*innen – durch Verhaltensänderungen und auch geringinvestive Maßnahmen zu einer Reduktion der CO2-Emissionen im Gebäudesektor beitragen können. Dabei ist für mich im letzten Jahr besonders deutlich geworden, dass wir immer das Gespräch mit unserer Zielgruppe suchen sollten, wenn wir Werkzeuge und Maßnahmen für den Klimaschutz entwerfen. Denn erst wenn wir verstehen, vor welchen Herausforderungen die Mitglieder unserer Gesellschaft in ihrer Lebensrealität stehen, können wir das Ziel der Klimaneutralität gemeinsam erreichen.
Vielen Dank für die spannende Erläuterung, Yvonne. Damit schaffst du in unserer Gemeinschaft ein starkes Bewusstsein dafür, wie wir im Haushalt effizienter und klimaschonender mit Energie umgehen können. Danke, dass du als Fellow deine Erkenntnisse mit uns teilst!